Matthias

Ecuador 2006/07 | Schulprogramm

(TW: Homofeindliche Aussagen)

Als ich mich in der 10. Klasse dazu entschloss an einem Schüleraustausch teilzunehmen, war ich mir bereits darüber im Klaren, schwul zu sein. Obwohl mein Umfeld in Deutschland aufgeschlossen war, hatte ich noch nicht den Mut gefunden, mich zu outen. Rückblickend bin ich mir sicher, dass meine Entscheidung, mich für ein Jahr auf einen anderen Kontinent zu begeben, auch daher rührte, dass ich mich zu Hause eingeengt fühlte. Die Vorstellung, in einem komplett neuen Umfeld eine Art Neustart wagen zu können, schien damals sehr reizvoll.

Als ich dann endlich in Ecuador war, stellte sich nach anfänglicher Euphorie schnell Ernüchterung ein. In der Gastfamilie klappte es nicht so wie erhofft und das Einleben in die fremde Kultur hatte auf den Vorbereitungen auch unproblematischer geklungen, als es sich dann für mich anfühlte. Da Ecuador ein sehr katholisches und eher konservatives Land war und ist, spielte das Thema Homosexualität im Alltag und in den Medien eine eher untergeordnete Rolle. Dies machte es einerseits leichter, meine eigene Homosexualität zu verschweigen, andererseits sorgte es natürlich dafür, dass Akzeptanz und Sensibilität noch nicht sehr ausgeprägt waren.

In meiner Klasse gab es damals einen Jungen, der laut Bekunden meiner Mitschüler schwul war. Dies schien zwar allgemein ein interessantes Gesprächsthema zu sein, wurde aber ansonsten hingenommen und geduldet. Trotzdem zog ich es vor, mich von anderen Schwulen fernzuhalten, da ich noch nicht bereit war, mich mit meiner eigenen Homosexualität auseinanderzusetzen. Bei diesem Unterfangen halfen Kommentare meiner ersten Gastmutter, wie zum Beispiel „Man sollte allen Schwulen den Penis abschneiden und ihn dann um ihren Hals hängen“ natürlich nicht. Ich machte allerdings auch zahlreiche positive Erfahrungen.  Die Freundschaften, die ich mit anderen Austauschschülern in meiner Stadt schloss und von denen viele bis heute bestehen, machten den Umgang mit vielen schwierigen Situationen leichter.

Eine von ihnen kam aus den USA und war in einem eher alternativen Umfeld groß geworden. Ihre vielen Geschichten über schwule Freunde und eigene homosexuelle Erfahrungen ermutigten mich schließlich, mich zu öffnen und ihr zu erzählen, dass ich schwul bin. Sie war zwar die Einzige, der ich mich in Ecuador anvertraute, doch half die Tatsache, eine Vertraute zu haben, mir enorm den Alltag zu bewältigen. Als ich nach den elf Monaten glücklich wieder im Kreise von Familie und Freunden war, begann ich langsam damit mich zu outen, was dank meines sehr liberalen Umfelds eine durchweg positive Erfahrung war.

Einige Jahre später, während meines Studiums, bekam ich einen Anruf aus Ecuador. Meine zweite Gastmutter war am anderen Ende und wollte sich erkundigen, wie es mir ginge. Obwohl ich mich natürlich freute, von ihr zu hören, war ich etwas verwundert, da wir uns normalerweise nur zu Geburtstagen und an Weihnachten sprechen, doch nach kurzem Small-talk kam sie zum eigentlichen Anlass ihres Anrufs: Sie hatte über Ecken gehört, dass ich mit einem Mann zusammen bin, und wollte mir mitteilen, dass sie mich lieb hat und dass ich trotz ihres strengen Glaubens immer ihr Sohn bleiben werde.Dieser Anruf hat mich sehr bewegt. Obwohl sie meine Homosexualität vielleicht nie verstehen oder voll akzeptieren kann, war sie auf mich zugegangen und hat mir ihre Zuneigung und Loyalität gezeigt. Es ist schön zu erleben, wie Gefühle eine Brücke über die manchmal große Kluft  kultureller Unterschiede schlagen und es uns ermöglichen, uns trotz und wegen unserer Verschiedenheit wertzuschätzen.


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