Chiara

China 2018/19 | Schulprogramm

Vorab möchte ich niemanden in meiner Erzählung abwerten oder vorführen. Ich erzähle bloß, wie ich das Thema „Queer“ in meinem Gastland wahrgenommen habe.
 
Ich bin mit einer sehr voreingenommenen Einstellung was das Queer-Sein in meinem Gastland, China, angeht, hin gereist. Denn uns allen ist bekannt, dass China doch als ein sehr konservatives Land gilt. Dennoch wollte ich die Werte, die ich vertrete, unter anderem, dass ich die LGBTQ-Community unterstütze, nicht verleumden und mich einschüchtern lassen. Also habe ich es direkt in den Brief an meine zukünftige Gastfamilie geschrieben. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, wer das werden würde. Ich habe in dem Brief erwähnt, dass ich die LGBTQ-Community unterstütze, und habe erwartet, dass es entweder nicht verstanden wird oder dass ich deshalb eine geringere Chance auf eine Gastfamilie hätte. Doch habe auch ich, wenige Wochen vor meiner Abreise, die Daten meiner Gastfamilie bekommen. Ich habe mit ihnen vor meiner Abreise ein wenig Kontakt aufgebaut, doch wurde ich nicht auf meine Bemerkung im Brief aufmerksam gemacht. Ich dachte das sei so, weil sie es entweder akzeptieren würden, nicht verstanden haben oder weil es einfach nicht der chinesischen Kultur entspricht, solche sensiblen Themen direkt anzusprechen.
 
Ein wenig Zeit in meinem Gastland verging, ich verbrachte meinen Aufenthalt bei meiner wundervollen Gastfamilie: meinen Gasteltern, meiner Gastschwester, Gastgroßeltern, Onkel und Tante, Cousin und unserem Hund, 豆豆 (dòudòu). Meine Gastmutter hat immer viel mit mir geredet und das Gespräch angefangen, auch wenn mein Chinesisch noch nicht so gut war. Irgendwann abends waren wir zusammen in meinem Zimmer und sie sprach mich darauf an, was ich damals in meinen Brief an sie geschrieben habe. Sie fragte mich, ob ich mich daran erinnern würde und wollte offensichtlich ihre Meinung dazu äußern. Um ehrlich zu sein war ich ein wenig eingeschüchtert von ihr, der chinesischen Kultur und dem was folgen würde. Ich konnte nicht einschätzen, wie sie dazu stehen würde. Sie hatte auf mich bis zu diesem Zeitpunkt wie eine sehr offene, herzliche Frau gewirkt und ich hielt viel von ihr. Also habe ich, als ich endlich verstanden habe, was sie mir sagen wollte, keine eindeutige Antwort gegeben und und sie sagte mir, ganz offen, dass sie so etwas (also Teil der LGBTQ-Community zu sein) als Mutter bei ihrem eigenen Kind nicht akzeptieren könnte, dass keine chinesischen Eltern das könnten. Das hat mich erst einmal sehr überwältigt. Ich wusste nicht, ob ich es mir erlauben kann, „etwas Falsches“ zu sagen, ich wusste nicht einmal, was falsch war zu sagen und was nicht (auch in Hinsicht auf die Kultur). Also habe ich das Gespräch nicht fortgesetzt oder eine Diskussion herausgefordert.

Das war eines der prägendsten Erlebnisse während meines Aufenthalts in China, die ich zu diesem Thema gemacht habe und an das ich mich bis zu diesem Zeitpunkt noch ganz klar erinnere. Es ist schade, dass es keine aufbauende und freudige Erzählung ist, aber dafür ist sie realistisch. Andere eher kleinere Begegnungen, die ich in meinem Auslandsjahr mit dem Thema „Queer“ und „Queer-Sein“ gemacht habe, waren unter anderem überraschend und positiv. Nachdem meine Gastmutter mir so etwas gesagt hat, habe ich nicht damit gerechnet, dass sie es in anderen Teilen ihres Lebens akzeptieren und nett finden könnte. Sie hat zum Beispiel, als sie vom Einkaufen nachhause kam, davon erzählt, dass sie eine (vermutlich) transsexuelle Frau oder eine Dragqueen gesehen hat und sie ihr Auftreten und ihr Make-up sehr schön fand. Ebenso haben wir zusammen eine Fernsehshow geschaut, bei der chinesische Stars aufgetreten sind. Sie hat mir ganz offen davon erzählt, dass einer der Personen in der Show der bekannteste transsexuelle Star Chinas sei und jeder sie kennen würde.
 
Am wohlsten habe ich mich dann aber doch mit den anderen Austauschschülern gefühlt. Meinen Erfahrungen nach sehen fast alle in unserer Generation keinen Grund mehr, jemanden aufgrund ihrer Sexualität zu diskriminieren. Es ist vielmehr eine Nebeninformation geworden, die man irgendwann anderen gibt, um zu erklären, wieso man z. B. über ein Mädchen in einer romantischen Weise spricht.
 
Ich hoffe, der kleine Einblick in mein Leben und meine Erfahrungen, die ich damals in China gemacht habe, hat euch gefallen 🙂 Dankeschön fürs Lesen! <3


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