Lukas

Indien 2017/18 | Freiwilligendienst

1. Wann und wo warst du im Ausland?

Ich war 2017/18 über das „weltwärts“-Programm in Indien.

2. Wusstest du schon bei deiner Bewerbung, dass du bi-, trans- oder homosexuell bist?

Ich hatte für mich schon relativ weit vor meiner Bewerbung für mich klar, dass ich mich als homosexuell identifiziere.

3. War deine sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität während deines Aufenthalts ein Thema für dich?

Definitiv, allerdings auf verschiedene Art und Weise. In Indien allgemein ist Homosexualität, noch stärker als das Thema Sexualität an sich, in großen Teilen der Gesellschaft tabuisiert. Homosexuelle Paare werden z. B. weder anerkannt, noch dürfen sie adoptieren; auch der hoch angesehene Armeedienst bleibt ihnen verwehrt. Es gibt in Indien keine Anti-Diskriminierungsgesetze, dafür aber die Sektion 377 im Strafgesetz, welche gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten unter Strafe, von zehn Jahren bis hin zu lebenslänglich, stellt. [Anmerkung: Das Gesetz stammt aus der britischen Kolonialzeit und wurde 2018 vom Oberste Gerichtshof Indiens für verfassungswidrig erklärt.] Allerdings wird der Paragraph eher als Druckmittel und Repressalie gegen Homosexuelle verwendet, anstatt diese zu verurteilen. Auch wenn in liberalen Räumen (z. B. den Großstädten, oder auch Teilen von Bollywood) langsam die Diskussionen aufkommen, in wie fern Homosexualität in der indischen Gesellschaft nicht auch einen Platz haben könnte, war ich schon vor dem Freiwilligendienst damit konfrontiert, dass ich als „illegal“ angesehen werden könnte. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf war es für mich schon eine Herausforderung, unbelastet und offen in jede Situation hinein zu gehen und mich nicht negativ davon beeinflussen zu lassen.

Im Alltagsleben fällt Homosexualität meist eher durch ihre Abwesenheit auf. Dadurch, dass das Konzept hier so stark tabuisiert ist, würde z. B. niemand daran denken, dass es „komisch“ sei, wenn zwei Jungs oder Mädchen in der Öffentlichkeit Händchen haltend durch die Gegend laufen, kuscheln, etc. wie es hier der Normalfall ist; das ist vollkommen ok, aber weder schwul noch lesbisch. Auch offene Homophobie ist im Alltag eher selten, allerdings sind die Methoden und Argumentationen, mit denen Betroffene unterdrückt werden, ebenso perfide.

Aus Gesprächen und Begegnungen mit Homosexuellen wurde für mich schnell deutlich, wie schwer es für Inder*innen, die sich als homosexuell identifizieren, im Alltag ist; geprägt von dem Kampf um die eigene Anerkennung, das Sich-ausleben-Können. Sie sind nicht selten mentaler, physischer, emotionaler und/oder ökonomischer Gewalt ausgesetzt, die von Familien, der lokalen Kommune, sowie der Polizei mitgetragen und ausgeübt wird; Hilfe können sie also nicht erwarten. Außerdem ist es sehr schwierig, sich mit anderen Gleichgesinnten auszutauschen, weil es noch keine wirklich offiziellen Räume oder einfach zugängliche Möglichkeiten dafür gibt; selbst in den Städten. Um diesen gesetzlichen und gesellschaftlichen Repressionen zu entgehen, lokale Probleme und Belästigung zu vermeiden, sein Ansehen und seinen Platz in der Hierarchie der Gesellschaft nicht zu verlieren, verzichten viele Menschen auf das ‚Coming-Out‘ und leben bis zum Ende verdeckt. Um nicht aufzufallen, heiraten z. B. auch Betroffene, trotz ihrer eigentlich anderen Gesinnung, bekommen Kinder und simulieren das Bild einer glücklichen und intakten Familie.

Das hat mich nicht nur immer sehr traurig, ratlos und wütend gemacht, sondern mich auch immer wieder daran erinnert, dass ich mit meiner eigenen sexuellen Orientierung vorsichtig umgehen sollte. Ich habe deshalb versucht, mit einem gesunden Maß an Fingerspitzengefühl die unangenehmen Situationen weitestgehend zu vermeiden.

In meinem christlichen Projekt selbst und auch in der Kirche habe ich meine Sexualität nicht thematisiert. Zum einen als Schutz vor möglichen Folgen, zum anderen, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass es grundsätzlich relevant gewesen wäre. Ich glaube, die Jungs, mit denen ich gearbeitet habe, hätten das nicht wirklich verstehen bzw. einordnen können und gegenüber meiner Kontaktperson/quasi Gastvater, ein offen konservativer Mensch, wollte ich es nicht ansprechen. Aber z. B. auf meinen Reisen, wo ich viel in Kontakt mit meist jüngeren Studierenden war, hatte ich viele interessante und konstruktive Gespräche, Diskussionen und auch lustige Momente.

Als dann Ende August 2017 die Rechte der LGBT-Bewegung in Indien gestärkt und Anfang Januar 2018 eine Überprüfung des Paragraph 377 angekündigt wurden, war das für mich nicht nur groß und live in den Medien mitzuverfolgen, sondern hat mich auch noch einmal bestärkt, meinen Weg während des Freiwilligendiensts auch konsequent so weiter zu gehen und zu versuchen, mich so gut es geht für diese Sache einzusetzen.

Falls du ein Coming-out hattest:

1. Wie waren die Reaktionen deiner Umwelt (Gastfamilie, Freundeskreis, AFS-Leute, -Betreuende, Schule bzw. Projekt)?

In Indien selbst hatte ich kein „Coming-out“, da ich davon aus Prinzip (Stichwort Normativität: Was ist typisch hetero? Was ist typisch homo?) nichts halte; wir sind alle Menschen.

Die andere Freiwilligen haben alle positiv und teils interessiert reagiert, auch mit meinen beiden Mitbewohnern hatte ich innerhalb des Jahres deswegen kein Problem. Sogar meine Organisation im Gastland (FSL India) war fast schon empathisch und hat mich einigermaßen durch die Koordinatoren in meinem sein unterstützt. Die wenigen indischen Freunde, die ich vor Ort kennengelernt habe, waren auch mehr interessiert als schockiert und wir waren immer im konstruktiven Diskurs.

2. Wie hat dein Umfeld in deinem Heimatland reagiert?

Zuhause wussten eigentlich alle schon Bescheid, deshalb gab es auch von dieser Seite keine negativen Rückmeldungen, höchstens Besorgnis und gut gemeinte Ratschläge, wie ich damit in Indien umgehen könnte.

3. Was hat dir geholfen? Was hättest du dir gewünscht?

Am meisten hat mir geholfen, dass ich in den Momenten, wo ich unsicher war oder jemanden zum Reden brauchte, gute Ansprechpartner und gute Freunde vor Ort hatte, wodurch ich gestärkt aus solchen Situationen hervorgehen konnte. Außerdem war es für mich einfacher, z.B. meine Gedanken und Ansichten authentisch erklären zu können, da ich mich schon vor meinem Jahr viel und bewusste mit dem Thema „Sexuelle Identität“ auseinandergesetzt hatte und auch während der Vorbereitungen von verschiedenen Seiten gestärkt wurde.

Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass die gesellschaftliche Situation in Indien schon jetzt eine andere wäre, sodass ein bewusster Umgang mit dem Thema nicht so negativ von statten ginge, also quasi besseres Timing. Ich bin aber zuversichtlich, dass sich der öffentliche Diskurs dahingehend noch weiterentwickelt.


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